Er will es ja auch nicht

Er steht vom Sofa auf, geht zwei, drei Schritte durchs Wohnzimmer, um sich dann sogleich wieder hinzusetzen. Die Einsamkeit bricht über ihn hinein. Sie ist zu spät. Sie ist schon wieder zu spät. Viertelnach. Reto spürt, wie seine Augen feucht werden. Tränen, für die er sich so schämt. Klar, ja, seine Freundin ist super-unzuverlässig. Klar, ja, er darf sich nerven, darf enttäuscht sein. Aber nicht so, nicht schon wieder weinen, nicht schon wieder diese Wut. Heute will er sie nicht anschreien, wenn sie nach Hause kommt. Das hatten wir doch alles schon, denkt er sich.

Zwanzignach. Er steht wieder auf. Am liebsten würde er jetzt sein Handy an die Wand knallen. Er muss es beiseitelegen, etwas machen, irgendetwas machen. Er schaltet den Computer ein. 22 Minuten. «So eine Kuh!»

Seine Wut auf Sofia war geboren, lange schon bevor er Sofia kannte. Reto weiss das, und das macht ihn nur noch wütender. Reto wurde als Jugendlicher gemobbt. Er war anders. Das heisst, nicht mal unbedingt er war es, seine Familie war es. Da waren allerlei Gerüchte, Sektenfamilie, hiess es, oder: «Geht Deine Mutter in die Psychi?» Nichts davon stimmte, nichts war wahr, doch Reto war in den Geschichten der anderen gefangen, in jenen Wahrheiten verstrickt, die eigentlich keine waren. Immer war da dieses Gelächter. Immer war da diese Ausgrenzung. Er, Reto, nein, er gehörte einfach nicht dazu. Er hatte keine Freunde. Er konnte kaum je mitmachen. Reto, nein, du nicht. Reto, geh’ doch nach Hause!

Reto hatte das Gefühl: Niemand liebt mich! Und wenn Sofia jetzt eben schon wieder zu spät nach Hause kommt, das weiss er doch, heisst das nicht gleich, dass sie ihn nicht liebt. 27 Minuten. Sie ist halt so. Klar, ja, Sofia ist etwas unfair, etwas rücksichtslos, u-n-s-e-n-s-i-b-e-l! Aber eigentlich, das weiss er ja, sollte er ihr deswegen jetzt auch nicht gleich sein ganzes Verlassenheitsgefühl ungefiltert an den Kopf knallen. Und auch wenn das Gefühl in seiner Brust gerechtfertigt sein sollte, (nein: gerechtfertigt ist!!!), so anschwellen müsste es ja nicht gleich. Seine Wut ist, und das weiss er, das weiss er eigentlich, in ihrem Ausmass übertrieben. Er will sie ja auch nicht. Sie kommt wie ein ungebetener Gast. Sie passiert. Sie übernimmt Besitz.

Die Türe geht. Sie kommt. Sofia kommt. Atmen, sagt er sich jetzt, in den Bauch hinein atmen, atmen. Reto wischt sich eine Träne aus dem Gesicht.

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