Geht die Geschichte? Kann ich sie schreiben? Matthias hat zielstrebig auf diesen Zettel gezeigt: «Alle Affären offengelegt». Ja, es war ein Moment des Aufatmens, aber kann ich darüber schreiben? Die Geschichte liegt weit zurück, ich war dreissig, ein anderer Mensch also, es war in der Vergangenheit, und es gab ein Aufatmen: Die Frau, der ich meine lange Liste von Affären offenbarte, meine Partnerin, nahm es gelassen.
Affären: Unterwegs zu einer anderen Frau. Aufgeregt im Zug sitzen. Fremdgehen. Es ist Betrug auf alle Seiten: Betrug an der Frau, der man verbunden ist und die Treue geschworen hat. Betrug auch an der Frau, zu der man geht und die nie mehr als eine Affäre sein wird. Betrug an der Liebe für diese Frau, die echt ist und doch nicht sein kann. Oder es ist eine Verschwörung, ein Spiel gegen die gesellschaftliche Konvention, die man aushebelt, in dieser Nacht, die geheim bleibt, die sich hinter dem Vorhang des Geheimnisses und der Verschwörung abspielt.
Oder. Es ist eine Gleichung, die nicht aufgeht, 1 und 1 und 1, das gibt immer die falsche Zahl, man könnte ja zwei und zwei sagen, dann wäre es gerade, aber es bleibt dabei, zumindest in den Augen «der Gesellschaft», dass es etwas Unrechtes ist, ein Verstoss gegen Vertrauen und Ehrlichkeit.
Und jetzt also sitzen wir draussen auf der Steinmauer im Veltlin, wo wir Freunde besuchen, es sind unmögliche Ferien, unsere Gastgeber trinken unglaublich viel, es ist eine Sauferei, völlig sinnlos, und dann muss man, weil so viel Aktivismus da ist, gleich los, am Morgen, verkatert und irgendwo am Meer sein. Ich bin müde, habe Kopfschmerzen, und vielleicht geht auch sonst gerade nichts mehr oder mein Gewissen ist zu schwer, es ist warm an der Sonne, wir haben einen Moment für uns, meine Frau und ich, und jetzt gestehe ich alles, die ganze Liste von Affären, die hinter mir liegen und mich plagen, weil ich stets heimlich tat.
Die und die und die und die.
Die Frau, der ich meine Liste beichte, meine Frau, gerät nicht so ausser Fassung, wie ich fürchtete. Vielleicht war es auch weniger geheim, als ich es mir einbildete? Warme Sonne, warmes Mauerwerk aus Bruchstein und Mörtel, die Kinder sind am Spielen mit den Kindern des befreundeten Paares und mir wird leichter. Dieses Geheimhalten, Verstecken hat ein Ende. Und mir ist klar: Mit Affären ist jetzt Schluss. Ich will nicht vorgreifen, aber ich denke, dass ich mich auf die moralisch richtige Seite stellte, war nicht nur gut. Ich begann meiner Frau zu verbieten, was ich mir selbst verboten hatte, und missgönnte ihr ihre Freiheit. Als Sünder war ich toleranter – und irgendwie auch sympathischer.
Die und die und die, das heisst auch: Ich und ich und ich. Ichs, die in Ehepaar keinen Platz fanden. Die Kreativen Ichs, das andere Ich, das schwermütige Ich, das sexuelle Ich, das Abenteuer-Ich. Und zwischen Erfüllungen, Momenten der Flucht, Momenten der Ekstase, der Verliebtheit: Unglück und Traurigkeit.
Ich und ich und ich. Heute kann ich sagen: Wir kamen so früh zusammen, meine Frau und ich, dass wir noch gar nicht fertig waren für ein Leben als ausschliessliches Paar. Wir mussten Erfahrungen machen. Wir mussten damit leben, dass wir als Paar unentschieden waren, oder offen: Bindung und Ausschliesslichkeit waren nicht denkbar für uns. Wir waren als Suchende zusammengekommen. Die Bindung als Eltern schafften wir. Wir hatten ein starkes verbindendes Bild – vielleicht tauchte es damals im Veltlin auf, als wir auf der Mauer sassen: Dass da, vielleicht verschüttet, ein Band war, das durch alles ging, eine Liebe, die den Konventionen trotzte, denn waren wir nicht beide Rebellen gegen die starren Vorstellungen der Gesellschaft? Hatte nicht ihr Ex-Partner sie als Hexe bezeichnet, weil sie so unbändig war, hatte nicht ich ihr gesagt: «Dann lass uns den Besen fliegen»? Wir waren nicht angetreten, es richtig zu machen.
Vielleicht war es das katastrophale Paar-Leben der Freunde gewesen, das mich zur Offenlegung meiner Affären gebracht hatte: Sie hatten für den Anfang der Beziehung ein Datum, sie hatten für alles ein erstes Mal, ein Damals, eine Festlegung, einen Punkt, so sehr, dass sie darin erstarrten. – Wir hatten nur unseren Mut, gemeinsam ins Leben zu gehen, und ein Misstrauen gegenüber allen Formen.
Wir sind Mitte dreissig, als wir auf dem Mäuerchen sitzen. Wir haben zwei Kinder, wir haben unsere Ausbildungen zu Ende gebracht, wir leben in einem Haus, das uns zu fertig ist. Wir haben keine Lösung für das Dilemma, in dem wir stecken: dass wir Freiheit wollen, füreinander, für uns, aber dass wir nicht wissen, wie wir mit den Schmerzen umgehen, die diese Freiheit bedeutet, wenn man sie in Anspruch nimmt. Wir sind verheiratet und damit in einer Form gebunden, die bedeutet, dass ich von anderen Frauen, die ich liebe, nicht sprechen kann, ohne dass ich mich zum Betrüger mache. Nur wenige Freunde wissen davon, ich verberge dieses Leben. Ich bin auch geborgen in den Momenten, die geheim bleiben müssen.
Aber wie geht es zusammen, dieses Kaleidoskop von Bildern, die sich überlagern, diese Spiegelung von Innen und Aussen, von Lust und Schuld, Geheimnis und Betrug.
Ich habe meine Partnerin nie nach ihrer Liste gefragt. Vielleicht hat sie auch eine? Ich weiss einiges, habe Vermutungen und schmerzhafte Erfahrungen in der Rolle des Dritten. Aber ich will es nicht wissen. Wir sind älter geworden. Unser Bund als Eltern hat gehalten und als Partner sind wir gewachsen. Wir haben unsere Welten als Paar und unsere Welten ausserhalb des Paares. Wir haben nicht so viele Begriffe, aber vielleicht ein so starkes «Innen» als Paar, dass vieles im «Aussen» Platz hat. Vielleicht leben wir, was wir uns mit zwanzig Jahren vorgenommen haben: das Leben als grosses Paar.
Ich beginne zu glauben, dass ich gar nicht so sehr der betrügerische Partner bin, der ich zu sein glaubte. Vielleicht bin ich einfach ein Mensch, der sich vielfach befreunden kann und das Glück hat, in einer Lebensbeziehung zu leben, die dafür Raum bietet?
Auf einen der Zettel habe ich beim Ideensammeln geschrieben: Wir sind dabei, eine sehr lange, sehr grosse Kurve zu meistern. Ich meine damit, dass ich glücklich bin.
Auf dem ersten Zettel stand die Adresse meiner Kindheit. Hier erlebte ich die Paargeschichte meiner Eltern. Meine Mutter war immer unzufrieden mit meinem Vater. Ob sie recht hatte? Ich weiss es nicht. Ihr Blick auf meinen Vater gab mir lange den Blick auf mich als Mann vor. Viele Erwartungen und unzählige Enttäuschungen. Als Kind überlegte ich, knobelte ich, wie sich die Beziehung meiner Eltern ins Gute wenden liesse. Ich hoffte darauf, ich wünschte mir, sie würden sich verstehen, ich wünschte, es wäre weniger Kränkung und mehr Liebe. In mir waren der Wunsch und die Hoffnung gross, Liebe könnte gut herauskommen. Heute habe ich manchmal das Gefühl, meine Mutter könnte in meinem Haus leben und glücklich sein. Ich habe das Bild, dass Beziehung ein grosser Raum ist, in dem ich sein kann, Boden, auf dem ich gehe.
Das Leben ist eine Landschaft, in der wir ein grosses gemeinsames Gut haben.
Autor: Jürg Schmid