Er geht nicht mehr aus dem Haus, schon lange nicht mehr. Seine Hüfte schmerzt beim Gehen und wenn viele Menschen in seiner Nähe sind, wird er unruhig. Da er nicht mehr viel spricht, weiß sie nicht genau, wie viel er hört oder versteht. Seit vier Jahren wird aus ihm ein anderer, er wird kleiner, schmaler und leiser. Sie waren häufige und leidenschaftliche Konzertbesucher und beide hatten durchaus unterschiedliche Auffassungen, beispielsweise über die Interpretationen einer Bach Suite. Sie diskutierten oft stundenlang über Musik. Er liebte Pablo Casals, sie liebte Mischa Maisky. Den fand er zu affektiert, sie konterte, dass dies keine ernstzunehmende Aussage über sein musikalisches Können sei. Außerdem habe er Casals nie live erlebt und deshalb sei ein Vergleich nicht zulässig. Sie waren ein glückliches Paar. Im Alter von 78 Jahren begann sein Gedächtnis nachzulassen und mit 80 war er deutlich überfordert von Alltagsdingen. Die Diagnose war keine Überraschung mehr als der Arzt ihnen, vor allem aber ihr erklärte, dass eine demenzielle Entwicklung alle Bereiche des Lebens betreffe. Sie übernahm das Ruder und zog ihn freundlich, aber bestimmt mit, mied die großen Konzertsäle und entdeckte die Vorteile von Sitzplätzen in der letzten Reihe, ganz am Rand. Wenn er auf seinem Sessel saß, konnte sie seine Konzentration sehen. Die Musik half ihm, seine Gedanken zu fokussieren, er war ganz bei der Sache. Danach war er entspannt und schien zufrieden. Mit der Zeit bemerkte sie, dass ihn die Konzentration anstrengte. Ihr letztes gemeinsames Konzerterlebnis waren die Klaviersonaten von Franz Schubert, gespielt von William Youn. Der Abend war Teil einer Gesamtaufführung der Schubertschen Klaviersonaten an acht Abenden, aber am zweiten Abend mussten sie in der Pause den Konzertsaal verlassen. Zwei Tränen liefen über seine Wangen, er schien unglücklich. Als das Publikum den Saal verließ, lief er zielstrebig zum Parkplatz. Sie folgte ihm langsam, der Autoschlüssel war in ihrer Tasche und er würde nicht wissen, wo das Auto geparkt war. Wie sie ihn ratlos auf dem Parkplatz stehen sah, wusste sie, dass eine neue Phase begann und sie fühlte einen Schmerz in ihrem Herzen, als wäre sie nach langen Jahren einer glücklichen Ehe plötzlich verlassen worden. Dabei tat sie ihm unrecht, das war ihr klar, aber ihr Schmerz war so irrational wie eindringlich.
Nach diesem Abend buchte sie Konzertkarten für sich allein. Sie konnte nur noch hören, was in ihrer Heimatstadt angeboten wurde, während ihre gemeinsame Tochter zu Besuch zum Vater kam. Die Zeit der Reisen war vorbei. Sie spielte ihre alten Platten, er saß in seinem Sessel, gewaschen, angezogen und gut versorgt. Sie war einsam. Er aber liebte es, wenn sie sich zu ihm setzte. Manchmal fasste er sie an der Hand und hielt sie fest. Dabei stellte er fest, dass es schön sei, neben ihr zu sitzen und stellte sich förmlich bei ihr vor. Er erkannte sie nicht mehr, fand es aber schön, neben ihr zu sitzen – es hätte also schlimmer kommen können, dachte sie.
Das Hauskonzert kam zustande, weil sie wegen einer Grippe nicht in der Lage war zu kochen. Sie bestellte probehalber einen Service, der warmes Mittagessen an die Haustüre lieferte. Auf dem Tablett mit den warmen Töpfen, die sie mit großer Skepsis öffnete, lag eine Einladung. „Musikkuriere“ nannte sich ein Service von ehrenamtlichen Musikerinnen und Musikern, die Wohnzimmerkonzerte für ältere Leute wie sie anboten. Menschen, die Musik lieben, aber nicht mehr aus dem Haus gehen können.
Zunächst legte sie die Karte achtlos zur Seite und beschäftigte sich mit dem fragwürdigen Essen, das aus einer Großküche stammte. Daran würde sie sich vermutlich nicht gewöhnen können, beschloss sie recht schnell. Ihm schien es zu schmecken, jedenfalls bemerkte er nicht, dass das Mittagessen anders schmeckte als sonst. Das fand sie zuerst kränkend, aber dann erinnerte sie sich daran, dass auch der Geschmackssinn durch eine Demenz beeinträchtigt werden konnte. Der Lieferdienst war also durchaus eine Option für die Zukunft, er würde ihr eine Menge Arbeit ersparen. Als sie die Töpfe und Teller in der Küche ordnete, hielt sie die Karte in der Hand und überlegte, ob sie auch dieses ungewöhnliche Angebot der Musikkuriere ausprobieren sollte.
Sie rief an und nach kurzer Befragung versprach die freundliche Stimme am anderen Ende des Telefons, ihnen ein junges Ensemble zu schicken. Drei Musikstudentinnen, die bereits erste Preise gewonnen hatten. Das konnte nicht völlig falsch sein, dachte sie und vereinbarte einen Termin für ein Wohnzimmerkonzert am Tag seines Geburtstags.
Morgens wählte sie ihre schönen Kleider aus, solche für ein Konzert, und auch er trägt nach langer Zeit wieder einen Anzug und die schwarzen Schuhe. Er ist aufgeregt, nimmt ihre Hand und fragt, ob er ein Taxi rufen sollte. Nein, sagt sie lächelnd, heute nehmen wir kein Taxi, wir bleiben hier. Die Musikerinnen kommen zu uns ins Wohnzimmer.
Er überspielt seine Verwunderung, eine kleine Finte, die ihn schon oft aus der Verlegenheit geholfen hat, und setzt sich in seinen Sessel, als würden selbstverständlich alle Konzerte dort stattfinden.
Das fröhliche Trio bringt Lachen und einen frischen Duft ins Haus, als die jungen Frauen die Instrumente aus den Koffern holen. Sie strahlen, während die Streichinstrumente gestimmt werden, und sie wachsen zu einer Einheit zusammen, sobald der erste Ton gespielt wird. Ihre Kommunikation ist präzise und auch wenn mancher Einsatz nicht ganz brillant klingt, ist es ausschließlich die Technik, an der noch etwas zu feilen wäre. Ihr Zusammenspiel ist hervorragend.
Die beiden sitzen auf ihren Sesseln und sind bezaubert von der Spielfreude, die sich vor ihren Ohren entfaltet. Er hat Tränen in den Augen, voller Freude blickt er auf das Geschehen. Sie rückt ein bisschen näher an ihn heran und nimmt seine Hand. Die jungen Frauen spielen das Streichtrio Op. 8 von Beethoven und ein Divertimento in Es-Dur von Mozart. Danach beantworten sie höflich einige Fragen und lehnen noch höflicher Getränke und Kuchen ab. Seit langem hat sie ihn nicht mehr so souverän plaudern gehört. Er berichtet von seiner Jugend, als er durch das Geigenspiel seine Liebe zur Musik entdeckte. Dann bittet er die jungen Frauen um einen kurzen Moment der Stille und wünscht sich danach ein Haydn Streichtrio in B-Dur. Sie staunt, weil er derart genaue Angaben macht und die jungen Frauen suchen auf einem iPad nach den Noten. Bedauernd schütteln sie die Köpfe und verstummen aber, als sie sehen, wie er sich seiner Frau zuwendet und ihre beiden Hände nimmt. „Ich verbringe meine Zeit am liebsten mit dir,“ sagt er. „Wir kennen uns nicht gut, aber ich fühle mich so wohl, wenn du in meiner Nähe bist.“ Sie sieht ihn verwundert an und weiß nicht sicher, ob sie die Situation jetzt irgendwie steuern sollte. Aber sie wartet, und es dauert eine gewisse Zeit, in der alle in dem Raum den Atem anhalten. Dann fragt er: „Würdest du mich heiraten?“ Die drei jungen Frauen stecken die Köpfe zusammen und kichern. Sie weiß nicht gleich, was sie sagen soll, und blickt ihn mit großen Augen an. „Würdest du?“, fragt er noch einmal. Sie nickt. Und strahlt. Sie sagt nicht, dass sie bereits seit 42 Jahren gemeinsam durchs Leben gehen, sie sagt auch nicht, dass er ihren Namen vergessen hat. Sie sagt einfach aus tiefstem Herzen „Ja“. Die jungen Frauen spielen leise einen Hochzeitsmarsch und beobachten die beiden alten Leute auf dem Sofa, die sich innig umarmen. Die Musik ist nichts weniger als Magie, sagt die erste Geigerin und dann spielen sie noch ein Streichtrio. Es ist von Alfred Schnittke, aber das interessiert die beiden Gastgeber im Moment nicht. Zwischen den beiden fließt eine zeitlose, tiefe Verbundenheit, die den jungen Frauen die Augen öffnet für etwas, was sie noch nicht kennen können.
Die Musikkuriere sind ein Projekt der Aktion Demenz Vorarlberg, in Kooperation mit unterschiedlichen Musikensembles, inspiriert von Mark Riklin. Während der Pandemie wurden aus den Wohnzimmerkonzerten kurzfristig Gartenkonzerte. Musik hilft nachweislich dabei, die Denkfähigkeit zu aktivieren. Die positive Auswirkung der Musik wird oft unterschätzt.